Erzählung "Waldszene im Kriegswinter 1945".

Eine Bahnstation irgendwo in der Umgebung von Neumühl an der Oder. Ein eisiger Januarabend 1945. Spärliche Lichter, eher Funzeln, beleuchten die Tristesse des Bahnhofs. Die Laternen sind zerbombt. Im Wärterhäuschen sitzt ein Mann in Uniform. Stille. Ein Zug wird heute nicht mehr kommen. Nur noch ein Schienen- Strang ist in Betrieb. Der andere wurde von einer Granate getroffen. Wie gebrochene Knochen ragen seine Gleise in den Nachthimmel. Geschützdonner. Flüchtlinge werden von russischen Panzerdivisionen eingeholt, überrollt, flüchten in dieser frostigen Winternacht in den angrenzenden Wald.

Es raschelt. Ein Schatten kriecht unter einen Waggon mit Kartoffeln, verschwindet im Dunkeln. Noch zwei, drei andere Schatten folgen. Kinder, lautlos kriechend. Eins stolpert über eine Weiche. Bedrohlich nähert sich der Wärter, eine Karbidlampe in der Hand. Ein schwarzer Riese, denkt der Junge, schlotternd vor Angst. Schon steht der Bahnwärter neben dem Kind, ganz nah, taxiert ihn: Höchstens 6 Jahre alt, ausgemergelte Wangen, eine zerfetzten Tasche, aus der Kartoffeln herauskollern. Ein Häufchen Elend ohne Mütze und Handschuhe mit kahl geschorenem Kopf, der Eiseskälte ausgesetzt. Zertretene, löchrige Schuhe mit Bindfäden verschnürt. Rote, abstehende Ohren, grotesk in einem schmalen, verhärmten Jungengesicht. Kriegskind.

Trotziges Weinen: „Wir haben nichts zu essen für unsere Kleinste. Sie hat Fieber … Mutter geht über die Gleise und sagt immer: 'Ach wär ich doch tot‘.“ Ergriffen wendet der Bahnwärter sich ab, hebt die herausgefallenen Kartoffeln auf und sagt mit rauer Stimme: „Lass mal gut sein, Junge!“ Er müsste hart durchgreifen und schnarrt: „Aber lass dich hier nicht wieder blicken, Bürschchen!“ Der Junge, der Johann heißt, stolpert Rotz und Wasser heulend zurück in den Wald.

Flüchtlinge haben sich unter Bäumen zusammengekauert, notdürftig mit zerschlissenen Mänteln eine Überdachung zum Schlafen geschaffen. Ein kalter, schmallippiger Mond bescheint das Elend. Verzweifelt versucht die Mutter, Windeln in geschmolzenem Schneewasser auszuwaschen, die nie trocknen und den wunden Popo ihres Säuglings nicht schützen. Ihr hageres Gesicht wird von einem dunklen Wollschal umrahmt, den sie tief in die Stirn gezogen hat. Die Frauen machen sich hässlich aus Angst vor den Russen. Johanns Mutter blickt auf, nickt ihm abwesend zu und legt die kostbaren Kartoffeln in einen verbeulten Blechtopf. Jetzt schwimmen sie in geschmolzenem Schneewasser. Da verlöscht das Feuer. Die Kinder finden nur nasse Zweige. Das letzte Streichholz, aufbewahrt in einer, mit dem Reichsadler versehenen Schachtel, verglimmt beim Anzünden. Kindergeschrei! Hunger! Verzweiflung!

Sich lauernd umsehend, huscht ein Mann in zerlumpter Uniform aus dem Gebüsch. Die Flüchtlinge erstarren. Der Fremde erfasst die Not, kramt in seiner Hosentasche, hält eine Schachtel Streichhölzer in der Hand und entzündet ein kleines Feuer. Welch ein Glück. Als die Flammen sein Gesicht beleuchten, weicht er zurück, flüchtet, noch ehe die Mutter ein „Dankeschön“ hauchen kann. Waldgeräusche verschlucken rasche, knirschende Schritte im Schnee. Entsetzensschreie. Ein eisiger Windstoß ffegt durch das Lager. „Das Feuer geht aus!“ Verlöschende Flämmchen, halbgare Kartoffeln. Apathisch versucht die Mutter, sie mit einem krummen Zinklöffel zu zerkleinern. Hungrig greift die vierjährige Anna mit dünnen Fingerchen, Spinnenbeinchen ähnelnd, ein Stückchen Kartoffel. „Lass das! Deine Schwester verhungert!“, ruft die Mutter grollend und geht mit schleppendem Gang zum Kinderwagen. Ertappt drückt Anna sich tief in einen abgeschabten Mantel, kuschelt sich fest an ihren Bruder Johann. Sie wärmen einander.

„Morgen wird Mutter wieder mit dem Kinderwagen, der nur noch drei Räder hat, über die Gleise stolpern und klagen 'Ach wär ich doch tot‘", tuscheln sie. Nicht das Morgenrot weckt sie, sondern ein greller Feuerstreif am Horizont, begleitet vom Donnern der Flakgeschütze. Als sich die Nebelschleier heben, Licht auf die armselige, im Raureif erstarrte Lagerstatt fällt, schleppt sich die Mutter zum Kinderwagen, schaut, wie jeden Morgen, hinein. Ihr gellender Schrei zerreißt die Stille: „Mein Baby ist tot!“ Verzweifelt zerrt sie das Kind an die Brust. Nach Schrecksekunden dringt jämmerliches Wimmern und fürchterliches Husten aus all den Lumpen, die den ausgemergelten Säuglingskörper verhüllen. „Gott sei Dank, du lebst, mein Kind!“ Leiser, fast tonlos: „Wie soll ich dich über den Tag retten? Ich träumte, du wärst in der Nacht gestorben.“

©2022 Barbara Stewen