Die Preisträger des 1. Bergischen Literaturpreises

Petra Christine Schiefer (2. Preis), Ute Gläser (1. Preis), Barbara Stewen (3. Preis)

s. dazu KStA/BLZ vom 23.08.2021: "Bergischer Literaturpreis"

 

Nachhaltigkeit 1948:

‚Das braune Faltenröckchen‘, mein Beitrag zum Literaturwettbewerb 2021 der Autorengruppe Wort & Kunst im Förderverein der Stadtbücherei Bergisch Gladbach wurde mit dem 3. Preis ausgezeichnet.

Nachhaltigkeit 1948. Das braune Röckchen.

Spätherbst 1948. Morgensonne scheint durch vereistes Glas des Sprossenfensters eines Bauernhauses. Die vierjährige Elisa wacht auf und schaut staunend auf die glitzernden Eisbilder. Mit kindlicher Fantasie entdeckt sie Farne, Sterne, Blumen und Märchenfiguren. Als sie gegen das Glas haucht, lösen die Bilder sich auf und geben die Sicht auf den Schnee bedeckten Garten frei, die geöffneten Schlagläden mit weißen Schneehauben und die verschneiten Buchsbaumbegrenzungen der Gemüsebeete. Beim Betrachten der Obststräucher muss sie sofort an Zuckerwatteballen denken, die sie auf der letzten Kirmes an einer Bude gesehen hat. Das aufgehäufte Spargelbeet sieht aus wie ein großes Grab, das den Sommer begraben hat.

Beeindruckend sind die großen Fußspuren, die am Gartentor enden. Dahinter werden Stallungen und weiträumige Felder sichtbar, die im Sommer farbenfroh leuchten durch das Goldgelb des Korns, das Kobaltblau der Kornblume und das satte Rot des Klatschmohns. Elisas Blick wandert zu den Anbauten, in denen die Tiere untergebracht sind. Da geht der Vater morgens zuerst hin. Über den Fenstern der Schweineställe hängen Eiszapfen, die sich durch die Stallwärme tropfend auflösen. Den Fußspuren nach zu urteilen ist der Vater schon lange auf den Beinen, denkt sie. Jeden Morgen öffnet er geräuschvoll alle Schlagläden. Langschläfer mag er gar nicht. Und da kommt er schon aus einem Stall, bekleidet mit derbem Schuhwerk, Gamaschen, Bridges-Hosen, Winterjoppe und einem Hut aus warmem Filz. Diese Bridges-Hosen, die bis zur Wade reichen, sind ein zweckmäßiges Kleidungsstück für Landwirte. Praktisch zu tragen auf dem Kutschbock, beim Reiten oder auf dem Motorrad, falls weiter entfernte Felder aufgesucht werden müssen.

Elisa mag diese Hosen gar nicht, sie haben ihr den letzten Namenstag verdorben. Schüttelnd wendet sie sich vom Fenster ab, läuft in die Küche und macht Katzenwäsche. Brrr, das Wasser ist eiskalt. Bibbernd flieht sie in die Nähe des bullernden Ofens und zieht sich an. Eine Rübenkrautstulle kauend, erinnert sie sich an ihren letzten Namenstag, den 19. November 1948. An diesem Tag ereilte sie ein Unglück. Was war geschehen? Ihr Tischplatz wirkte so verlockend! In buntes Geschenkpapier eingewickelt und mit einer roten Schleife versehen, lag ein Päckchen auf ihrem Platz, beleuchtet von einer dicken Honigkerze. Elisa kannte das Geschenkpapier. Sie bemerkte kleine Knicke und Gebrauchsspuren im Papier, das schon einmal benutzt worden war, nämlich zum Geburtstagsfest ihrer großen Schwester Irmi. Die Mutter hatte es glatt gebügelt, und das rote Band auch.

„Ohh“, jauchzend trat Elisa näher und pustete die Kerze aus. Ihr Herz pochte. In ihrer Vorfreude schluckte sie sogar die glibberige Haut der gekochten Milch herunter, ohne sich wie sonst zu schütteln, was jedes Mal ein mahnendes „benimm dich, Elisa“, der Mutter nach sich zog. Endlich durfte sie das Päckchen auspacken. Andächtig öffnete sie es. Verheißungsvoll knisterte das Papier. Spannung. Wie Glastecknadelköpfe waren die Augen der Eltern und Geschwister auf sie gerichtet. Elisa mochte diese bunten Stecknadeln, an die sie bei den Blicken der Tischrunde sofort denken musste. Tante Trautchen fiel ihr ein. Sie hatte stets ein oder zwei dieser Stecknadeln im Mund wenn sie nähte. Jeden Sommer reiste sie aus Krefeld an, um gegen Kost und Logis im Marathon-Tempo alle löchrigen Strümpfe der Familie kunstvoll zu stopfen und alte Kleidung auszubessern. Dabei schaffte sie es, mit ihrer Zunge bis an die Nasenspitze zu kommen. Ein Kunststückchen zur Freude der Kinder, die begeistert zuschauten, während die Tante zweckmäßige aber auch potthässliche Kreationen nähte. Das lag nicht an mangelnder Fertigkeit der Schneiderin, sondern an den abgetragenen Stoffresten. Und jetzt kommt das schön verpackte Geschenk ins Spiel. Was hatte es mit der Tante zu tun. Was verbarg das verheißungsvolle Päckchen mit der roten Schleife? Aus dem bunten Papier fiel Elisa etwas Braunes entgegen und landete, wie ein hässliches Entchen im Matsch, haargenau auf den rauen Natursteinen des Küchenbodens. Ihr Lächeln erstarb „Och nö, ein Faltenröckchen“, kam es enttäuscht aus ihrem Mund. Mit roten Wangen kroch sie unter den Tisch, erblickte die klobigen Holzschuhe der Geschwister und den unansehnlichen braunen Stoff, den sie nur zu gut kannte… und hasste.

Erinnerungen kamen auf. Wenn der Vater abends gute Laune hat, mich hochhebt und auf seine breiten Schenkel setzt, hat er immer diese braunen Hosen an und die riechen nach Stall und Erde. Wenn sich Vaters Beine bewegen, komme ich mir so verloren vor, wie ein Leichtmatrose auf einem schwankenden Schiff. Nun hat die Tante aus Vaters Cordhosen ein ‘olles‘ Röckchen genäht. Sie senkte den Kopf und konnte ihre Tränen nicht unterdrücken. Ungnädig schielte sie auf den an den Kanten abgewetzten Stoff. Auch die roten Herzknöpfe an den Trägerenden konnten das Unglück nicht ungeschehen machen. „Komm unter dem Tisch hervor! Das hat Tante Trautchen doch gut gemacht, das Faltenröckchen“, verkündete die Mutter, als ginge es um einen Lottogewinn. „Der Rest, also das andere Hosenbein ist noch da“, fuhr die Mutter, beifallheischend in die Runde blickend, unbeirrt fort. Elisa, senkte den Kopf, wollte keine Heulsuse sein, aber dieses Geschenk schmerzte. Sie verzichtete zu Mittag sogar auf die aus altem Brot servierten ‘Armen Ritter‘, die sie eigentlich sehr mochte. Sogar die Rosinen, die Mutter hineingebacken hatte, konnten sie nicht trösten. Auch die sonst so geliebte Weinschaumsauce aus Kochwein ließ sie stehen. „Hab‘ dich nicht so“, meinte die Mutter pikiert. „Uns geht es doch gut, denk mal an die armen Kinder in den Städten, die frieren, hungern und keine Wohnungen haben, weil alles in Schutt und Asche liegt“, fügte sie scharf hinzu.

Seit diesem Tag befürchtet Elisa, dass der braune Rock, wenn sie herausgewachsen ist, durch einen zweiten ersetzt wird, und der wäre dann aus dem zweiten Bein der alten Hose. Elisas Mutter hat Recht. Der Familie geht es, trotz der bedrückenden Erlebnisse der Flucht, verhältnismäßig gut. Geld ist rar, aber es wird gehandelt, getauscht und nachhaltig gewirtschaftet. Das Anwesen, das Elisas Vater verwaltet, umfasste eine Schweine-, Rinder- und Pferdezucht. Aus den Erträgen einer Mühle, eines Sägewerkes und großer Ländereien können die Eltern und Arbeiter des Hofes Deputat beziehen, sich selbst versorgen. Das bedeutet auch ein Schwein und Hühner für den Eigenbedarf. Natürlich gibt es in diesen Zeiten auch schwarze Schweine. Sie werden bei Nacht und Nebel im alten Backes hingerichtet, ‘schwarz‘ geschlachtet, erschossen, denn die Verwandtschaft aus dem Ruhrgebiet freut sich über sogenannte ‘Fresspakete‘. Für ein Schlachtfest geben sie gerne im Tausch unmodisch gewordene Kleidung her. Tante Trautchen zückt dann die Schneiderschere und verarbeitet jedes Stückchen Stoff zu Hosen, Kleidern, Blusen, Röcken oder zu Schürzen für die Kinder. Was nicht passt, wird passend gemacht.

Jeden Sonntag steht selbst gemachte Butter auf dem Tisch. Köstliches Nebenprodukt ist die frische Buttermilch mit Butterflocken, die auf der Zunge schmelzen. Selbst das Holz für die Öfen kommt aus dem Wald des Gutsbesitzers. Elisas Brüder hacken es missmutig mit einem Beil auf dem Blut getränkten Holzklotz vor dem Schuppen. Blut getränkt? Ja, er ist gleichzeitig Richtblock für das sonntägliche Suppenhuhn und so manch schnatternde Gans. Die Vergütung in Naturalien ist in den ersten Jahren nach dem zweiten Weltkrieg „Gold wert“.

„Elisa, träumst du wieder?“, fragt die Mutter. Elisa schreckt aus ihren Erinnerungen auf. „Mach mir mal brav die Haustür auf.“ Elisa kommt so grade an die Klinke der schweren Eichentür, öffnet sie und schaut auf den Hof. Mülltonnen gibt es nicht, nur eine Blechtonne für Glut und Asche der Öfen und Herde. Es sprüht Funken, als die Asche in die Tonne saust. Danach geht die Mutter in den Stall und gießt Essensreste und Spülwasser, damals noch ohne Spülmittel, in den ‘Schweineeimer‘. „Du kannst inzwischen den Hofhund füttern“, sagt sie zu Elisa, die mit einem Napf alter Gemüse-und Kartoffelreste, versehen mit Wurstpellen, zur Hundehütte geht. Verfaultes Obst, Gemüse- und Eierschalen landen danach auf dem Komposthaufen im Garten. Die große Schwester Irmi hat das wichtige Amt, frisch geschnittene Zeitungsblätter auf den rostigen Nagel des Plumpsklos zu schieben. „Weggeworfen wird nichts“, sagte der Vater, als Elisa einmal auf Knorpel in einer Scheibe Schinkenspeck biss, den es nur sonntags gab. „Mach nicht so ein Gesicht“, rief er streng. Er langte mit seiner Gabel über den Tisch, pikste den knorpeligen Schinkenspeck auf, steckte ihn in den Mund und kaute. Alle hörten es und erstarrten. Es knackte in Vaters Mund. Er schluckte. Stille… „Und jetzt brauch ich ‘nen Schnaps, Mutter.“ Gut gelaunt rief er nach dem zweiten Gläschen der Mutter zu: „Maria, das Kopftuch steht dir gut. Ist das neu?“ Die Kinder starrten die Mutter an. Sie hatten Mutters geknotetes Kopftuch nicht bemerkt. Im Dorf gab es nur einen Frisör und sein Topfschnitt war verschrien. Mutters Gesicht lief rot an: „Ich war bei Fräulein Brüske, habe ihr Wurst und Eier gebracht und als Gegenleistung hat sie mir mit der Brennschere Quetschwellen onduliert. Die Schere war wohl zu heiß.“ „Scheint in die Hose gegangen zu sein“, lachte Elisas großer Bruder Otto, und bekam prompt eine Backpfeife vom Vater, der Mutters Hand tätschelte: „Wächst bis Weihnachten wieder nach, Maria.“

Weihnachten! Noch fünf Wochen bis zum Fest. Elisa erschrak. Seither litt sie unter unruhigen Träumen. Eine bange Frage quälte sie: Was wäre, wenn unter dem Tannenbaum…, nein, sie wollte es nicht zu Ende denken… ein neues Röckchen aus dem zweiten Bein der braunen, gerippten Bridges-Hose des Vaters läge?

©Barbara Stewen