"Füchsin, Rumpelstilzchen und ein einsamer Wolf ".

Nacht im Ruhrgebiet, zwei Bergleute, Franz Bergmann und Bruno Dembowski, entdecken auf dem Dach eines alten Reihenhauses eine flüchtende Gestalt und wundern sich. 11 Tage später wird im Dachgeschoss des Hauses der Studiendirektor Armin Wolf im blutbesudelten und mit Leichensekret verschmutzten Badezimmer der Altbaumansarde tot aufgefunden. Hauptkommissar Max van Rump, Kommissar-Anwärter Spitz, die Polizeibeamten Poldi Piontek und Polizeimeister Anton Kantak ermitteln, kommen jedoch zu dem Schluss: Kein Mord, denn die Tür der Mansarde ist verschlossen, der Schlüssel steckt von innen, die Fenster sind verriegelt. Fazit: Hier kann kein Mörder herausgekommen sein!
Elisa Fuchs, genannt Füchsin, ehemalige Kripobeamtin und quirlige Schwester des Toten glaubt nicht an einen natürlichen Tod. Sie ermittelt auf eigene Faust und verfolgt zwei Ziele: Wer könnte als Täter infrage kommen? Wie ist der Täter aus der verschlossenen Mansarde entwichen?
Anhand alter Notizen und Klassenbücher sind für die Füchsin zwei ehemalige Schüler verdächtig, tauchen häufig in Wolfs alten Schulunterlagen auf, hatten mit ihm Kontakt.

Zur gleichen Zeit wird die Prostituierte Pretty-Lisa ermordet: “Wie eine verrenkte Puppe lag Pretty-Lisa im Tohuwabohu auf dem schwarz-weiß gefliesten Küchenboden, in der ein Rasender alles durchwühlt zu haben schien. Die blonde Perücke verrutscht, so dass die schwarze Haarpracht des Mädchens über die rechte Hälfte ihres schmalen Gesichtes fiel, das im Neonlicht erschreckend weiß wirkte. „Schneewittchen“, schoss es Hauptkommissar van Rump für einen Moment durch den Kopf, als er das Bild bei seiner Ankunft am Tatort in sich aufnahm: Die vor Entsetzen aufgerissenen Augen der Toten, die punktuellen Blutungen im Augenbereich, und der grellrote Seidenschal mit Preisschild, der den zarten Hals des Opfers umschloss… „

"Besteht da ein Zusammenhang zwischen dem Fall Armin Wolf und Pretty-Lisa?“, fragt sich die Füchsin und ermittelt ohne Wissen Max van Rumps auch im Prostituiertenmilieu.

Leseprobe:

Petersilienmeile

Petersilie Suppenkraut
wächst in unserm Garten,
unser Ännchen ist ´ne Braut,
soll nicht länger warten …

deutsches Volkslied, 19. Jhd.

4. Dezember 2003
Strömender Regen, eine bleifarbene Dunstglocke hängt über dem ganzen Pott.
Ein grüner Mini pflügt die auf der Straße stehenden Wassermassen beiseite. Fontänen spritzen an den Seitenfenstern hoch, der Scheibenwischer quietscht und schnurrt auf Stufe drei. Vorbei geht’s an einer alten Zeche, ein Bergmannschor hat sich trotz Schnürlregen versammelt und Elisa vernimmt im Vorbeifahren die bekannten Klänge eines Bergmannsliedes:
„.. und sind wir dann im tiefen Berg, an unsern Arbeitsstätten,
so helfe uns St. Barbara, dass wir viel Glück auch hätten.“
„Der vierte Dezember, Namenstag der heiligen Barbara, Schutzpatronin der Bergleute!“ erinnert sich Elisa.
Nun folgt ein ödes Niemandsland, das zwei Stadtteile verbindet, die Häuser trostlos und grau. Ab und zu wird die Tristesse aufgehellt durch schrille Weihnachtsbeleuchtung.
Vorbei geht’s an verwilderten Grünflächen und an Wohnwagen, die auf zwei von Wasserlachen umgebenen Parkplätzen abgestellt sind.
Der Straßenstrich; wenig einladend, und jetzt, an diesem grauen Morgen total verwaist, denn um 6 Uhr morgens müssen die Freier verschwinden, das ist die Auflage des Ordnungsamtes.
Ein vereinsamter Blickpunkt: ein Neon-Leuchtnikolaus an einem mit Spitzengardine verhüllten Wohnwagenfenster.

Elisa erinnert sich an eine Führung durch ihren westfälischen Heimatort.
„Petersiliengasse“, stand auf einem Straßenschild, und die Stadtführerin machte darauf aufmerksam, dass es selbst in diesem katholischen Ort schon im Mittelalter Prostitution gab, dass Männer im Schutz der Dunkelheit hier die Möglichkeit hatten, Kontakte mit Dirnen aufzunehmen.
Petersilie, schon in der Antike auch als Aphrodisiakum bekannt!
Elisa versetzte das in Staunen, war sie doch als junges, unschuldiges Mädchen auf dem Weg zur Beichte an jedem Samstagnachmittag durch die Petersiliengasse zum Klösterchen gegangen, nicht wissend, dass dieses zarte Pflänzchen, das die Mutter am Sonntag immer frisch gehackt, üppig auf der sonntäglichen Boullion verteilte, angeblich „sündiges Verlangen“ heraufbeschwören konnte.
„Das hier ist nun eine moderne Art einer Petersiliengasse, eher eine trostlose Petersilienmeile“, denkt Elisa. 
Sie ist seit dem Morgen unterwegs. Schon um 8 Uhr stand sie vor dem Haus, in dem Pretty-Lisa ermordet wurde.
Dort, in der Eckkneipe Adelheids-Bistro, trifft sich morgens alles, was von der Nacht übrig geblieben ist, sich stärken möchte, vor dem Regen flüchtet oder keine gastliche Bleibe hat.

Als Elisa eintritt, verstummt das Stimmengemurmel, sie wird einer eingehenden Prüfung unterzogen, gehört nicht hier hin.
Die Wirtin, eine stämmige, Respekt einflößende Blondine mit knallroten Lippen, harten Gesichtszügen und dick aufgetragenem türkisgrünem Lidschatten betrachtet sie äußerst kritisch. 
„Die Dame wünscht?“ fragt sie gestelzt und abschätzig.
„Einen großen Milchkaffee, bitte. Dann habe ich noch eine Frage, vielleicht können Sie mir helfen?“
„Sind Sie von der Polizei, oder vom Jugendamt?“ tönt es unwirsch aus dem roten Mund der Frau, die nun die Lippen missbilligend schürzt und eine abwehrende Haltung einnimmt, die prallen Arme in die Hüften gestemmt.

Elisa setzt ihre Unschuldsmiene auf: „Ach nein, ich suche eine ehemalige Freundin, die früher mal mit mir im Knappschaftskrankenhaus gearbeitet hat und deren Eltern hier wohnten.“
Elisa zeigt auf das Haus, in dem vor fünf Wochen Pretty-Lisa ermordet wurde.
„Ach so, Sie sind Krankenschwester.“ Die Miene der Wirtin hellt sich auf.
„Sie müssen schon entschuldigen, aber hier tauchen in letzter Zeit so viele Schnüffler auf!
Also, im Knappschaftskrankenhaus, da hat mein Erwin auch mal gelegen, war 40 Jahre im Bergbau und seine Lunge sah danach aus wie eine Kohlenschütte. Hatte Bronchialasthma.
Ist gut gepflegt worden, der Erwin, aber nun liegt er schon zehn Jahre unter Tage.“, seufzt sie. Ihr Busen hebt und senkt sich bedrohlich.
„Wat sollte ich machen; immer so allein zuhause sitzen, Fernseh gucken? Nee. Da hat der Anton, ein früherer Kollege von mein Erwin, diese Kneipe geerbt, und gesacht:
‚Adelheid, du bis ne tofte Frau, willse nich in mein Bistro helfen?‘ Gesacht, getan.“
 
Wirtin Adelheid holt Luft, legt die Stirne in Falten und sagt abwehrend:
„Dat Haus da, wer da früher wohnte, weiß ich nich.“
Sie winkt mit der Hand, damit Elisa sich zu ihr beugt und flüstert:
„Kein gutes Haus! Da is vorn paar Wochen ein junges Mädchen ermordet worden von ihrem Zuhälter. Kam hier morgens nach der Schicht manchmal mit ihrer Freundin Sonja rein und hat sich aufgewärmt.“
Emotionsgeladen fährt sie fort:
„Nettes Mädchen, die Lisa, is irgendwie unter die Räder geraten. aber der Koslowski, der Hund! Wenn der sich hier sehen lassen würde, der könnte was erleben!“
Beifälliges Gemurmel aus der schummerigen Wirtsstube.
„Das sind hier ja alles harte Burschen“, sie deutet auf die Männer im Hintergrund, die vom Kaffee bereits zu Bier und Schnäpschen übergegangen sind.
„Wat die aber nich haben können, dass sich einer an so ein junges Mädchen vergreift!“

„Wohnt denn Pretty-Lisas Freundin jetzt ganz alleine da in dem Mörderhaus?“ fragt Elisa betont unschuldig mit zitternder Stimme.
„Nee, die is mit ner anderen Kollegin  in einen Wohnwagen gezogen.“
Rückt näher zu Elisa, mit ihrem Mund an Elisas Ohr, so dass diese von warmem Alkoholdunst eingenebelt wird.
 „Straßenstrich“ flüstert sie. „Hat wohl Angst vor den Koslowski, den hamse immer noch nich, die Bullen!
Hat auch noch die Wohnung verwüstet, dat Polizeisiegel kaputt gemacht und mit rote Fabe an die Wand geschmiert: ‚Tot oder lebendig, ihr kriegt mich nicht!‘
Son großer schlanker Kommissar wa da und hat sich hier auch rumgehört. Van Stump, oder Pump oder so ähnlich.
Sonst halten wir hier immer alle zusammen, aber wenn der Koslowski kommt, der wird sofort verpfiffen, auch anne Polizei!“
Elisa zuckt zusammen: Boris Koslowski treibt sich immer noch herum! Droht, beobachtet vielleicht auch Pretty-Lisas Wohnung.
Sie bekommt Gänsehaut. Irgendwie muss sie das Max erzählen. Obwohl er nichts von ihren Recherchen weiß und wissen sollte.
„Das ist ja entsetzlich!“ stößt Elisa hervor.
„Da sagense was!“ kontert Adelheid im Brustton der Überzeugung. Dann fügt sie hinzu: „Früher sind die Mädchen nach der Schicht hier reingekommen, haben sich aufgewärmt. Erzählt, wat so los war inne Nacht.
Jetzt ham se Angst, gehen da inne Pampa, inne Nähe ihrer Wohnwagen in den ‚Beautysalon Rosenrot‘ und lassen sich morgens aufpeppen und verwöhnen von Mario und sein Team.“

Eine halbe Stunde später trifft Elisa vor dem Beauty- und Frisörsalon Rosenrot ein.
Ein altes Zechenhaus, mit trüben beigefarbenen Kunststoff-Fliesen und der typischen Kohlenpott-Patina verkleidet.
Im Hinterhof springt eine rotweiße Katze von einem verbeulten Mülleimer und verschwindet maunzend hinter einem Stoß nasser Pappkartons.
Zur Straßenseite schimmert auf weißer Leuchtreklame in pinkfarbener LED-Schrift: „Beauty und Style Rosenrot.“ Darunter in phosphorgrüner Leuchtschrift: „Open.“ 
Elisa, deren Haare vom Regen und Wind zerzaust sind, entscheidet sich spontan zu einem Frisörbesuch.
Sie tritt ein und wird von Andy Bergs Schnulze: „Ein Tag mit dir im Paradies“, förmlich erschlagen. Eigentlich möchte sie wieder gehen, da ist das Lied auch schon zu Ende. Sie atmet auf, aber nun schmettert Michael Holm: „Tränen lügen nicht!“
Da muss sie jetzt einfach durch.

„Oana“, ein herzförmiges Namensschild prangt auf der Brust einer stämmigen Frau mit kirschroter Haarmähne, die freundlich lächelnd auf Elisa zukommt.
Über schwarzen Leggins trägt sie ein wallendes rotes Pannesamt-Oberteil. Die Füße stecken in silberfarbenen Turnschuhen.
Hinter ihr glitzert ein Kunststoff-Weihnachtsbäumchen, geschmückt mit Strass-Modeschmuckketten und Ohrclips

„Einmal waschen, legen, föhnen, Liebchen?“ flötet Oana.
„Ja, gerne“, erwidert Elisa, von so viel Freundlichkeit überrascht. „Liebchen?“ Die Dame denkt doch nicht, dass Elisa …
Doch da es sich bei ihrem Frisörbesuch um einen Lauschangriff handelt, ist Elisa Oanas Einstufung recht.
Den Blick über die Klatsch- und Hochglanzmagazine gerichtet, die Oana bereit gelegt hat, nimm Elisa den Salon ins Visier.
Hinter einer Perückenparade in Rot Schwarz und Blond lugt Stimmungskanone Mario hervor – inbrünstig summend den Schlagertext begleitend. Dabei wiegt er seinen akkurat glatt rasierten Kopf hin und her, während sein schwarzer Schnurrbart rauf- und runterwippt. Mit grünen Ohrringen aus Glastropfen, hautengen Jeans und Pailletten besetzter, hellblauer Jeansjacke ähnelt Mario einem Paradiesvogel.
„Käffchen?“ fragt er fürsorglich und schaut Elisa freundlich und eindringlich an. Elisa nickt zustimmend.
„Mit Milch und sehr sweet, oder lieber Lady in Black?“ fragt er und taxiert Elisas schwarzes Outfit mit dem moosgründen Samtschal sehr aufmerksam.
„Mit Milch, sehr gerne!“, antwortet Elisa.
Aus dem Bereich „Beauty“, der durch einen klimpernden Perlvorhang vom Salon getrennt ist, kommt ein junges Mädchen mit Claudia Schiffer Mähne, bekleidet mit einer knappen Tigerhose  und schwarzem Maxi-Shirt.
„Nicole“ stellt sie sich vor.
„Oana meint, ich solle Ihnen schon mal die Haare waschen, dann kümmert sie sich um Sie.“
Elisa legt den Kopf zurück, entspannt sich, lässt diese Atmosphäre wirken, die nun durch Nino de Angelos „Jenseits von Eden“ untermalt wird. Nicole massiert sanft ihre Kopfhaut und erzählt:
„Ich bin so froh, dass ich diese Lehrstelle bekommen habe.“
„Wo kommen Sie denn her?“
„Aus Rotthausen; die Fahrt ist umständlich, aber manchmal nimmt Oana mich mit. Sie ist eine Seele von Mensch, auch für die Mädchen, die hierher kommen und zeitweise in den Wohnwagen leben. Meine Mama jammert jeden Tag: ‚Mädchen, ich will nicht, dass du in einem Puff arbeitest!‘“
„Das ist hier doch kein Puff, sondern ein ganz besonderer Frisörladen. Wir haben hier auch feste Kundschaft aus der Gegend und natürlich auch…“ wird leiser, „die Mädchen vom Straßenstrich, die von Oana und Mario ein wenig verwöhnt werden.“ Pause
Leiser: „Oana kennt sich aus, sie ist aus Rumänien geflüchtet, ist von einem Zuhälter misshandelt worden! Nun hat sie sich hier eine Existenz aufgebaut.“
„Oana, ein seltener Name?“ fragt Elisa.
„Oana sagt, dass es ein sehr beliebter Name in ihrer Heimat Rumänien sei. Er bedeute so viel wie Gnade, oder die von Gott begnadete.“

„Da ist was Wahres dran“, fügt ein junges Mädchen hinzu, dass neben Elisa Platz genommen hat, sich andauernd mit den Händen nervös durch die Haare fährt und an den Nägeln kaut.
„Hallo Sonja, Liebchen!“
Oana rauscht heran, umarmt das junge Mädchen, beugt sich zu ihr und flüstert:
„Alles gut gegangen heute Nacht? Keine bösen Überraschungen“
Sonja nickt und murmelt mit zitternder Stimme:
„Jedes Mal, wenn ich das Knirschen von Autoreifen auf dem Schotter höre, zucke ich zusammen, vor allem, wenn ein roter Cayenne naht.“ Pause!
„Was machen Sie denn hier?“ Sonja taxiert nun Elisa mit neugierigem Blick.
„Ein Trauerfall in der Familie.“, antwortet Elisa betrübt.
„Tut mir leid“, antwortet Sonja. „Ich muss auch immer an meine Freundin Lisa denken.“
Dann raunt sie Elisa zu: „Sie ist ermordet worden!“, und schon wieder scheint ihre Stimme zu brechen.
„Der Boris, ihr Freund, ach Quatsch, ihr Zuhälter hat sie erwürgt, und ich bin auch noch direkt in ihn hineingerannt, als er die Wohnung verließ! Und dann schreibt die Zeitung noch, dass eine Zeugin ihn erkannt hat! Wie dumm ist das denn?
An die Straße stelle ich mich überhaupt nicht mehr, hab immer den Schutz des Wohnwagens hinter mir, und meine Freundin Claudia ist ja auch noch da.“
„Der Koslowski hat doch bestimmt den Wagen gewechselt. Ich glaube, dass der sich nicht mehr in diese Gegend traut, bei den vielen Polizeistreifen hier!“ räumt Oana, die aufmerksam dem Gespräch gefolgt ist, beschwichtigend ein.
Sonja schaut nachdenklich, zupft wieder unruhig an ihren Haarsträhnen.
„Den Koslowski würden sie sofort erkennen, wenn er nicht seine Frisur gewechselt hat. Der trägt immer ein auffälliges Haartatoo in Form eines Spinnennetzes am Hinterkopf, der Angeber!“
Elisa hätte das Mädchen Sonja, wäre sie ihr irgendwo begegnet, nicht für eine Prostituierte gehalten. Sonja, blass, ungeschminkt, trägt die dunkelblonden Haare kurz.
Bekleidet mit einer verwaschenen Jeans, schwarzem T-Shirt mit Schmetterlingsprint und Convers-Turnschuhen wirkt sie eher wie eine 17-jährige Schülerin.

„Küsschen, Küsschen!“ Mario schwirrt heran, umarmt Sonja und tänzelt dann mit dem „Käffchen“ in Richtung Elisa. Er stellt die Tasse ab, betrachtet Elisa mit schräg gelegtem Kopf und meint:
„Ein bisschen mehr Farbe ins Haar; eine grüne Strähne, passend zum Samtschal, fände ich tres chic für Sie!“
„Nein, heute lieber nicht!“ lacht Elisa.
„Heute einfach nur waschen und legen.“
Als sie nach zwei Stunden den Salon mit der Musikuntermalung: „Jingle Bells, jingle Bells“ verlässt, machen  sich Marios und Oanas Einfluss doch noch bemerkbar.
An Elisas Ohrläppchen klimpern zwei Glöckchen in Form kleiner Tannenbäumchen, umrahmt von einer betonharten Fönfrisur.

Die Ermittlungen bringen die Füchsin und den Kommissar in tödliche Gefahr, sie hat in ein Wespennest gestochen.

Irrläufer

Es sind nicht die Füße,
die uns bewegen,
es ist unser Denken.
Chinesisches Sprichwort

Wuchtig graben sich die schweren Schritte des Läufers in den weichen Waldboden. Zweige knacken unter seinen Füßen. Schon wird eisige Kälte spürbar. Sie greift, jetzt in den ersten Stunden nach Mitternacht, nach den Spuren des Läufers, die nun zu Eiskrusten werden. Das weiche, grüne Moos am Wegrand erhält einen feinen Überzug aus glänzenden Frostkristallen.
Kleine Bäche und Rinnsale erstarren, glitzern auf im fahlen, spärlichen Mondlicht, das durch die knorrigen Baumkronen schimmert.
Der Mann lauscht gequält auf die Geräusche des Nachtwaldes, vernimmt das Aufheulen eines Fuchses, der flugs verschreckt in einer Erdhöhle verschwindet. Ein Käuzchen flüchtet mit warnendem Ruf. Das Wispern, Krächzen und Sirren von Kleinstlebewesen! Das Rauschen der Baumkronen! All das nimmt der Mann wahr in schrillen, verstärkten Tönen! Es rauscht, knirscht und lärmt in seinen Ohren. Nirgendwo scheint er Frieden zu finden.

Er heult auf, greint wie ein Kind, Tränen laufen in sein dickes Kapuzenshirt. Er ist auf der Flucht vor den Menschen, vor dem Leben, vor sich selbst. Er läuft hier auf uraltem, dunklen, fruchtbaren Boden, darunter das schwarze Gestein, ehemals das schwarze Gold, die Kohle, die diese Gegend geprägt hat, entstanden durch Metamorphose vieler Millionen Jahre. Sein Vater hat unter Tage gearbeitet, als Hauer, 40 Jahre lang. Dann war er „kaputt“, keine Luft mehr, Bronchialasthma, Bronchopneumonie! Rosa Luftbläschen kamen aus seinem Mund, und dann war er tot.

Das ist noch keine drei Wochen her. Nach einem markerregenden Schrei stand der harte Mund für immer still, der Mund, der ihn oft anschrie, ihm vorwarf, dass er nichts zu Ende bringen würde, ein Weichling, ein Versager wäre! Ob er etwa schwul sei? Dann die groben, rissigen Hände, die zupacken, aber auch schlagen konnten, ins Gesicht! Diese Hände lagen nach kurzem Todeskampf des Vaters elfenbeinfarben und unschuldig, umwunden von einem Rosenkranz, auf dem schneeweißen, frischen Deckbett, auf dem noch die scharfen Falten der Mangel zu erkennen waren. Alles blitzsauber, klinisch rein und kalt!

Der Läufer schüttelt sich, greint erneut, schreit, versinkt wieder in Gedanken. Sie verfolgen ihn schier! Nun ist er mit der Mutter mit all ihren Ticks und Ängsten allein in dem muffigen Altbau! Alle Tassenhenkel müssen in die gleiche Richtung weisen, starren ihn jeden Morgen herausfordernd an. Die bestickten Sofakissen bekommen jeden Tag einen Schlag von Mamas weicher Hand in die Mitte, ähneln einer lächerlichen Kissenpatrouille nach einer Kissenschlacht! Ordnung, Ordnung, und was die Leute denken! Mamas Mund, der an verknittertes Pergamentpapier erinnert und mindestens einmal täglich den Satz ausstößt: „Wann wirst du endlich heiraten, mein lieber Junge. Was soll nur werden, wenn ich mal tot bin? Das ist doch kein Leben, das du führst!“ Ein einziger Vorwurf!

Heiraten! Er hatte geliebt, einmal so heftig empfunden, dass es ihn zerriss, verstörte und zerstörte. Er stürzt über eine vereiste Baumwurzel, rappelt sich wieder hoch, er ist verletzt. Blut läuft an seiner Hand herunter. Er leckt das warme Blut ab, ekelt sich nun vor sich selbst. Denkt an das sich bereits in Zersetzung befindende Blut der Leichen, wenn sie aufgeschnitten werden. Nun wird ihm übel. Das fette Essen beim Italiener, der Wein, der Mann am Nachbartisch in Begleitung von Armins Schwester! Bestimmt redeten sie über ihn, verfolgten ihn schon längst.

Jetzt schämt er sich. Er hat die Zeche geprellt, erstmalig eine Straftat begangen. Erstmalig? Er verdrängt aufkommende Erinnerungsfetzen.
Seit einigen Wochen zieht es ihn mehr zu denen, die nicht mehr leben: Zu den Toten in der Pathologie. Ihre Münder sind still. Die Augen geschlossen, und wenn sie noch offen sind, schließt er sie sanft. Er hat Macht über sie. Er darf sie berühren, sie spotten nicht. Er darf ihnen manchmal Organe entnehmen, sie vorsichtig in Glasgefäße mit Formalin einlegen, sie widersprechen nicht. Er reiht sie andächtig auf, wie kleine Kostbarkeiten. Er schließt die Wunden der Toten sorgfältig wieder mit Nadel und Faden, und ihre friedlichen Gesichter sind für ihn wie ein stiller Dank. Er spricht zu ihnen, kann ihnen dort im grellen Neonlicht des Kellers alles sagen, wenn er allein ist. Ihr Schweigen ist für ihn wie ein Einverständnis. Sie verstehen ihn.

Eine Turmuhr schlägt viermal. Er muss sich beeilen. Schon sind durch den grauen Schneeschleier die Dächer der Vorstadtsiedlung zu erkennen. Er huscht durch die Gassen, verdeckt von nächtlichen Schatten. Dann lösen sich seine Konturen auf im dichten Schneegestöber.